Wohnen ist ein Recht, kein Luxus

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Eine Replik auf einen Gastkommentar von Gernot Blümel vom 26. Mai - von Andreas Gerner.

Der Österreich-Pavillon auf der Architekturbiennale in Venedig thematisiert unter dem Motto „Agency for a Better Living“ die globalen Wohnfragen – anhand der Synthese von Top-down, dem Erfolgsmodell des sozialen Wohnbaus Wiens, und Bottom-up, dem Selbstorganisationsmodell der Zivilgesellschaft am Beispiel der Stadt Rom, anhand konkreter Architekturen. Beim Besuch vor einer Woche wurde ein zentraler Aspekt klar sichtbar: Wohnen ist mehr als ein wirtschaftliches Gut – es ist ein Grundbedürfnis und Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Es ist zu groß und zu wichtig, um es als politischen Spielball zu sehen – schon gar nicht, um dem Thema die soziale Komponente zu nehmen. In Zeiten wachsender sozialer Ungleichheit und explodierender Mieten in vielen Metropolen zeigt Wien: Eine strategisch gesteuerte Wohnbaupolitik kann dem Marktversagen entgegenwirken.

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Andreas Gerner.

Das Ziel, allen Menschen Zugang zu leistbarem und qualitätsvollem Wohnraum zu ermöglichen, ist seit den 1920er-Jahren gelebte Realität. Mit rund 220.000 Gemeindewohnungen und weiteren 200.000 geförderten Wohnungen lebt heute mehr als die Hälfte der Wiener Bevölkerung in einem nicht gewinnorientierten Wohnumfeld – eine europäische Ausnahmeerscheinung. In meiner Lehrtätigkeit an der TU Wien habe ich erfahren, wie essenziell es ist, den sozialen Wohnbau nicht nur am Rande, sondern als integralen Bestandteil der universitären Ausbildung zu behandeln.

Zentrales Prinzip des Wiener Wohnbaus ist die langfristige Sicherung leistbarer Mieten. Dies geschieht nicht nur durch Wohnbauförderung, sondern auch durch aktive Bodenpolitik, ein starkes gemeinnütziges Bauträgerwesen und regelmäßige Bauträgerwettbewerbe mit klaren Qualitätskriterien.

Die Stadt behält dabei die Kontrolle über Grund und Boden – ein Schlüssel zur Mietpreisstabilität. Der soziale Wohnbau wirkt so als soziales Korrektiv zum freien Wohnungsmarkt. Er verhindert Gentrifizierung, stärkt die soziale Durchmischung und schafft Chancengleichheit. Die Durchlässigkeit des Systems fördert stabile Nachbarschaften und verhindert Stigmatisierung.

Vielfalt der Wohnformen

Die Wiener Wohnbevölkerung ist so vielfältig wie nie zuvor: Der soziale Wohnbau reagiert auf diese Realität mit differenzierten Wohnformen und innovativen Raumkonzepten. Barrierefreie Grundrisse, betreutes Wohnen, gemeinschaftliche Wohnprojekte und flexible Raumprogramme sind Standardbestandteil vieler geförderter Projekte. Darüber hinaus sind soziale Infrastrukturen – wie Kinderbetreuung, Begegnungsräume, Mobilitätsangebote – integraler Bestandteil der Planung.

Die Klimakrise stellt auch den Wohnbau vor neue Anforderungen. Der Wiener soziale Wohnbau verfolgt deshalb einen umfassenden Nachhaltigkeitsansatz. Energieeffizientes Bauen, nachhaltige Baustoffe, PV-Anlagen, Grünfassaden, Regenwassermanagement oder Mobilitätskonzepte mit Sharing-Angeboten sind zunehmend Voraussetzung für Förderungen.

Auch der Bestand wird aktiv mitgedacht: Durch großflächige Sanierungen von Gemeindebauten entsteht CO₂-Einsparung, ohne dass leistbarer Wohnraum verloren geht.

Nachhaltigkeit wird nicht als Luxus, sondern als Voraussetzung für langfristige Leistbarkeit verstanden. Denn ein energieeffizientes Haus senkt auch Betriebskosten.

Wien ist auch Labor für neue Wege. Die Stadt fördert experimentelle Projekte, kooperative Bauformen und partizipative Prozesse. Bewohner:innen werden in Planungsprozesse einbezogen, Pilotprojekte wie Baugruppen, Co-Housing oder temporäre Nutzungen eröffnen neue räumliche und soziale Potenziale.

In einer Zeit, in der viele Städte auf Nachbesserung oder Deregulierung setzen, beweist Wien: Wohnbau kann öffentlich, innovativ, nachhaltig und erfolgreich sein. Die Herausforderungen der Zukunft – vom demografischen Wandel über den Klimaschutz bis zur Sicherung urbaner Lebensqualität – lassen sich ohne eine aktive, soziale Wohnbaupolitik nicht bewältigen. Wien hat vorgemacht, wie es geht.

Der diesjährige österreichische Beitrag auf der Architekturbiennale in Venedig ist aktueller denn je. Er zeigt, welche Mehrwerte in Wien durch aktive Wohnungspolitik geschaffen werden und er ist auf jeden Fall eine Reise wert.

Zum Autor:

Andreas Gerner ist Architekt in Wien, Gründer und CEO von GERNER GERNER PLUS.

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